
Lange galt: Für eine solide Immobilienfinanzierung werden mindestens 20 bis 30 Prozent Eigenkapital benötigt. Interessenten stellten in den letzten Jahren ernüchternd fest, dass mit dem Ansparen des Kapitals kaum die Preissteigerungen am Immobilienmarkt auszugleichen waren. Da liegt die Überlegung nahe, ohne Eigenkapital den Immobilienerwerb zu stemmen. Auftrieb bekommt diese Strategie mit dem weiterhin niedrigen Zinsniveau. Ist also eine Vollfinanzierung sinnvoll und unter welchen Bedingungen? Damit Chancen ohne große Risiken einzugehen genutzt werden können, ist objektive Beratung gefragt. Der erste Schritt: Überblick zum Thema verschaffen.
Vollfinanzierung und was damit gemeint ist
Wird von einer 100-Prozent-Finanzierung gesprochen, meint der Banker damit die Finanzierung des Kaufpreises. Werden auch Nebenkosten finanziert, bedeutet dies für das Kreditinstitut eine 110 Prozent oder 120-Prozent-Finanzierung.
Zu den üblichen Erwerbsnebenkosten zählen:
• Grunderwerbssteuer
• Maklercourtage
• Notarkosten (Erstellung und Beurkundung des Kaufvertrags sowie Bestellung der Grundschuld für die Bank)
• Gebühren des Grundbuchamts
Wann ist eine Vollfinanzierung sinnvoll?
Die Konditionen einer Immobilienfinanzierung werden maßgeblich durch den Beleihungsauslauf bestimmt. So ist bei einer Vollfinanzierung im Vergleich zur 60-Prozent-Finanzierung von einem Zinsunterschied von etwa 0,70 Prozent auszugehen.
Dennoch kann der Immobilienerwerb ohne oder mit wenig Eigenkapital sinnvoll sein. Dies ist unter den aktuellen Bedingungen der Fall, sofern einige Voraussetzungen gegeben sind:
Die Zinsen sind auf einem historischen Tiefstand
Trotz leichtem Aufwärtstrend in 2021 ist dies aktuell gegeben. Durch die niedrigen Zinsen fällt der monatliche Aufwand wesentlich geringer aus. Das erlaubt vielen Erwerbern die Aufnahme deutlich höherer Darlehenssummen. Es ist also aktuell realistischer, ein Haus ohne Eigenkapital zu erwerben, als in Zeiten höherer Zinsen.
Es wurde eine attraktive Immobilie entdeckt
Das „Wunschobjekt“ gefunden zu haben, ist aktuell ein Glücksfall. In vielen Lagen ist der Markt sprichwörtlich leer gefegt. Ist das Objekt in einem tadellosen Zustand und die Lage verspricht eine stabile Wertentwicklung, erhöhen sich die Chancen, eine Bank zur Vollfinanzierung zu bewegen.
Eigenheimbesitzer können sicherer kalkulieren als Mieter
Sobald die Immobilie gekauft wurde, profitiert der Erwerber an steigenden Werten durch Vermögenszuwachs. Selbst mit dem fehlenden Eigenkapital wird durch den Kauf ein Schnitt gemacht: Statt den Preissteigerungen hoffnungslos „hinterherzusparen“, gehen diese auf das eigene Vermögenskonto. Im günstigsten Fall ist das Darlehen im Ruhestand getilgt und der Aufwand für Zins und Tilgung entfallen komplett. Mangelnde Alternativen bei sicheren Kapitalanlagen machen die Investition in Stein und Boden zusätzlich attraktiv. Im Vergleich müssen Mieter auch im Alter mit weiter steigenden Mieten rechnen.
Für wen ist eine Vollfinanzierung bzw. Baufinanzierung ohne Eigenkapital sinnvoll und möglich?
Die Bereitschaft der Kreditgeber, einen Immobilienkauf einschließlich der Nebenkosten zu finanzieren, hat sich in den vergangenen Jahren grundlegend verändert. Nachdem es vor vielen Jahren kaum möglich war, gehören Vollfinanzierungen bei einigen Banken zum Tagesgeschäft. Wichtig: Die Institute knüpfen klare Bedingungen an die Beleihungen oberhalb der „Beleihungswerte“.
Bonität
An die Bonität werden erhöhte Anforderungen gestellt. Zunächst wird das zur Verfügung stehende Einkommen auf Nachhaltigkeit geprüft. Das fällt bei abhängig Beschäftigten leichter als bei Selbstständigen. Ein unbefristeter Arbeitsvertrag mit einem festen Einkommen ist eine gute Grundlage. Der sichere Beamtenstatus verbessert ebenso das Rating. Die Wohnimmobilienkreditrichtlinie sieht zwar keine Altersbeschränkung vor, doch die monatlichen Raten müssen auch von der Rente problemlos zu zahlen sein. Daher wird ab dem 60. Lebensjahr meistens ein Minimum an Eigenkapital erwartet.
Üblich ist bei der bankinternen Haushaltsrechnung, bei hohen Beleihungsausläufen mit Aufschlägen zu kalkulieren. Das bedeutet, bei Vollfinanzierungen reicht in der Regel nach Abzug der Ausgaben von den Einnahmen keine schwarze Null. Es wird ein deutlicher Überschuss erwartet.
Bei hohen Beleihungsausläufen wird die Gesamtverschuldung kritisch geprüft. Bestehende Kredite erschweren daher die Finanzierungsmöglichkeiten. In dem Zusammenhang spielt die Kredithistorie eine große Rolle. Diese drückt sich in der Schufa-Auskunft aus. Da ist es hilfreich, vor dem Darlehensantrag eine Schufa-Eigenauskunft anzufordern und auf den Score-Wert zu achten: Dieser sollte bei einer Vollfinanzierung bei mindestens 97,5 Prozent liegen. Das bedeutet ein statistisch geringes Ausfallrisiko.
Objekt
Bei den meisten Banken wird die Eigennutzung positiver bewertet, als der Erwerb einer Kapitalanlage. Da bei einer Vollfinanzierung der Objektwert eine besondere Rolle spielt, werden extrem hohe Beleihungsausläufe bei einigen Instituten in strukturschwachen Gebieten ausgeschlossen. Bei den meisten Banken geben die Kreditvergaberichtlinien den Kreditentscheidern feste Beleihungsgrenzen vor. Einige Institute begrenzen den Auslauf beispielsweise auf 120 Prozent. Das bedeutet: Stellt die Bank bei der internen Objektbewertung (Kaufpreis 300.000 Euro) einen Beleihungswert von 240.000 Euro fest, wäre in dem Fall maximal eine Finanzierung von 288.000 Euro darstellbar.
Fazit
Die Vollfinanzierung einer Immobilie kann ein höheres Risiko bedeuten. Dennoch ist nicht grundsätzlich davon abzuraten. Wer die nötigen Voraussetzungen mitbringt, kann die niedrigen Zinsen für ein solides Investment nutzen.